Es ist kalt. Nur der Chai-Latte, den ich mir gerade gekauft habe, wärmt meine Finger. Um mich herum pulsiert New York wie ein Ameisenstaat. Ich stehe Broadway Ecke Barclay Street und warte darauf, dass die Ampel grün wird. Über mir ragt das Woolworth Building in den grauen Dezemberhimmel. Trotz der Kälte bin ich aufgeregt, denn bald ist es soweit: Ich darf mir das Gebäude von innen ansehen.
Was daran so spannend ist? Im Prinzip ganz einfach: Das Gebäude ist nur mit einer geführten Tour zugänglich und es repräsentiert die Vergangenheit der Stadt auf einzigartige Weise. So sehr ich das neue, pulsierende New York auch mag – mein Herz schlägt für die Geschichte der Stadt und die werde ich heute noch ein bisschen besser kennenlernen.
New Yorks achtes Weltwunder
Ich überquere die Straße und erreiche den Eingang des Woolworth Buildings. Er liegt etwas versteckt hinter einem Bauzaun. Davor warten schon drei andere Leute. Einer davon stellt sich zehn Minuten später als unser Guide vor. Bryan ist waschechter New Yorker, auch was die Winterkleidung angeht. Er hält eine geöffnete Mappe mit alten schwarz-weiß Bildern in der Hand, als er zu erzählen beginnt: Von 1910 bis 1913 dauerte der Bau des Woolworth Buildings. Mit der Einweihung am 24. April 1913 galt das Gebäude als achtes Weltwunder und höchstes Gebäude der Welt, denn es verkörperte die Moderne zu dieser Zeit wie kein anderes Gebäude in New York. Im Rahmen der Einweihungsfeier lud Frank Winfield Woolworth knapp 800 Gäste ein und der Präsident selbst setzte vom Weißen Haus in Washington aus über eine Fernleitung die Beleuchtung des Woolworth Buildings in Gang – ein großes Spektakel.
Das Woolworth Building in Zahlen
Bryan lässt uns in seine Mappe schauen, einer nach dem anderen sehen wir uns alte schwarz-weiß Fotografien an, wie es damals ausgesehen hat. Ich schaue vom Bild zum Gebäude und wieder zurück. Auch wenn Marken wie Starbucks sich im Basement des Woolworth Buildings eingerichtet haben, eines machen sie nicht vergessen: Dass das Gebäude aus jeder Pore, mit jeder steinernen Verzierung eine andere Zeit verkörpert, ein anderes Selbstverständnis. Dass es ein Teil der US-amerikanischen Geschichte ist.
Nachdem jeder einen Blick auf die Fotos werfen konnte, führt Bryan uns in das Innere. Was ich eben schon gespürt habe, verstärkt sich noch einmal, sobald der Straßenlärm hinter mir verklingt: Das Woolworth Building steht im modernen New York wie eine Zeitkapsel. Und wie in einer Zeitkapsel fühle ich mich auch, als ich in die Eingangshalle trete.
Von seiner Eröffnung 1913 bis zum Bau des Bank of Manhattan Buildings 1930 war das Woolworth Building mit seinen 60 Stockwerken nicht nur das höchste Gebäude der Welt, sondern sticht auch noch durch einige andere Kennzahlen hervor. Eine davon ist sein Preis. In damaligen Werten hat der Bau rund 13,5 Millionen US-Dollar gekostet. Auf heutige Wertstellung umgerechnet sind das 342 Millionen US-Dollar. Allein diese Zahlen sind schon gewaltig. Was aber noch um einiges krasser war, sagt Bryan, während wir im Foyer stehen, ist die Tatsache, dass Frank Winfield Woolworth tatsächlich reich genug war, um alles aus eigener Tasche zu zahlen. Er finanzierte das Projekt also in bar ohne Kredite oder die Hilfe von Anlegern. Damit wollte er verhindern, dass andere ihm in die Bauplanung reinredeten, denn das Gebäude sollte genau nach seinen Vorstellungen gestaltet werden. Und das wurde es auch.
Design und Konstruktion des Woolworth Buildings
Wir lassen uns mit in den Nacken gelegten Köpfen durch das kathedralenartige Foyer treiben und staunen. Bryan lässt uns ein paar Minuten, um uns an den Prunk zu gewöhnen, auf den man von außen mitnichten vorbereitet ist. Dann scharrt er uns im Kreis um sich und fährt fort: Cass Gilbert, der beauftragte Architekt, stimmte sich mit Woolworth ab und beide entschieden sich für die Beaux-Art-Architektur mit gotischen Elementen zur Verzierung als Grundlage für den Bau des Gebäudes. Damit wollte sich Woolworth in die Nachfolge der großen mittelalterlichen Kaufleute stellen, als deren Nachkomme er sich selbst sah.
Seinen Reichtum stellte er nicht nur mit der Geschwindigkeit des Baus und den Kosten zur Schau, sondern auch mit der Gestaltung selbst: Die Fassade besteht aus weißem Terrakotta, die Inneneinrichtung dominieren Mosaike, Skulpturen und die goldbedeckte Decke der Lobby. Es ist klar, was Woolworth damit bezwecken wollte und was er auch geschafft hat: Ein Denkmal zu setzen, das er selber erschaffen hat. Und obwohl das Woolworth Building heute nicht mehr das höchste Gebäude der Welt ist, bleibt es doch Zeuge einer Zeit, die so fest zu New York gehört wie der Times Square.
Wir verabschieden uns von Bryan, der noch so viel mehr erzählt hat, als ich in diesem Artikel unterbringen konnte. Ich trete zurück auf den Bürgersteig, der Prunk und der Hauch von Vergangenheit bleiben hinter mir zurück. Erst drei Blocks weiter drehe ich mich noch einmal um: Das Gebäude ragt stolz in die hereinbrechende Dämmerung, fast als ob ihm die Zeit nichts anhaben könnte.
Wow, das sieht total spannend aus! Aber das ist ja häufig so in New York: Von außen sehen die Wolkenkratzer fast alle gleich aus, aber von innen sind einige Schätze dabei.
Ja, das stimmt! Von außen häufig grau und von innen dann sowas wie im Woolworth Building.